Der Dernburg Wagen - das erste Allrad-Auto von Daimler

Die äußerst durchdachte Konstruktion von Paul Daimler hat Allradantrieb und sogar eine Allradlenkung

Der Dernburg Wagen - das erste Allrad-Auto von Daimler: Die äußerst durchdachte Konstruktion von Paul Daimler hat Allradantrieb und sogar eine Allradlenkung
Erstellt am 18. November 2012

Das erste Personenfahrzeug mit Allradantrieb für den Alltagsbetrieb konstruiert die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) im Jahr 1907. Der sogenannte „Dernburg-Wagen“ hat sogar eine Allradlenkung. Er ist benannt nach dem damaligen Staatssekretär Bernhard Dernburg, der mit ihm 1908 in Afrika viele Kilometer zurücklegt. Seitdem gilt die Maxime: Wenn es um mehr Traktion geht mit dem Ziel, besser und sicherer voranzukommen, ist der Allradantrieb die beste Technik. Sie kommt im Laufe der Jahrzehnte erfolgreich in sehr unterschiedlichen Fahrzeugen von Mercedes-Benz zum Einsatz, in Personenwagen wie in Nutzfahrzeugen, von Transportern bis hin zu Schwerlastwagen.

Das Reichskolonialamt weiß zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bei der Bestellung genau, was es von der Daimler-Motoren-Gesellschaft erwartet und auch erwarten kann: Ein zuverlässiges Fahrzeug, das auch schlechte und lange Wegstrecken klaglos bewältigt und mit dem man so flexibel ist, wie man es bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von einem Automobil kennt. Der Ingenieur Paul Daimler, Sohn des Firmengründers, ist federführend bei der Konstruktion des gewünschten Fahrzeugs, das 1907 im Werk Berlin-Marienfelde schließlich als Einzelstück entsteht. Das Allradautomobil basiert auf einem Lastwagen-Chassis der DMG, es hat einen Radstand von vier Meter und eine Spurweite von 1,42 Meter. Die Bodenfreiheit von 32 Zentimeter ist für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnlich groß, sind doch fast alle Automobile häufig auf stark ausgefahrenen Straßen unterwegs.

Das Fahrzeug wird schließlich 34 750 Mark kosten. Es trägt eine Tourenwagen-Karosserie mit zwei Plätzen auf der Chauffeursbank und insgesamt vier Sitzplätzen im Fond. Türen gibt es nur für die Fondpassagiere. Großzügige Trittstufen lassen die Einstiegshöhe von rund einem Meter erklimmen. Auf acht Pfosten ist ein Sonnendach fixiert, das vorn fast bis zur Fahrzeugfront reicht, damit der Fahrer auch bei sehr tiefstehender Sonne nicht geblendet wird. Hinten am Fahrzeug ist eine Gepäckbrücke für Koffer oder Ersatzräder angebracht. Auf dem Dach: Ein weiterer großer Gepäckträger, geschützt von einer Plane. Rechts und links unterhalb des Daches sind Zeltplanen befestigt, die heruntergelassen werden können und so den Aufbau schließen, um die Passagiere gegen Wind, Wetter und Sand zu schützen.

Der Vierzylindermotor schlägt sich wacker, aus rund 6,8 Liter Hubraum liefert er bei 800/min die durchaus ansehnliche Leistung von 35 PS (26 kW), was auf ebener Asphaltstrecke immerhin für eine Höchstgeschwindigkeit von rund 40 km/h gut ist. Wichtiger jedoch für das Fahrzeug mit seinem besonderen Einsatzgebiet ist die enorme Steigfähigkeit mit Hilfe des Allradantriebs: Sie beträgt 25 Prozent. Das Fahrzeug hat einen permanenten Allradantrieb, der Motor schickt seine Kraft über eine ausgeklügelte Mechanik an die vier Räder. Eine Welle verbindet ihn mit dem genau mittig montierten Getriebe, das vier Vorwärtsgänge und einen Rückwärtsgang bietet. Von dort übertragen Kardanwellen die Drehbewegung an die Differenziale der Vorder- und Hinterachse, die sie wiederum per Kegelradkombinationen aufteilen und zu den Rädern schicken.

Der Allradantrieb eignet sich besonders für den Wüsteneinsatz

Eine aufwendige Erprobung des Kolonialwagens über 1677 Kilometer findet Ende März/Anfang April 1908 in Deutschland statt. Die Strecke führt von Berlin-Marienfelde nach Stuttgart-Untertürkheim und zurück. Untertürkheim wird am Vormittag des vierten Tages erreicht, nach weiteren vier Tagen ist das Fahrzeug wieder in Marienfelde. Dabei legt es auch Strecke abseits befestigter Straßen zurück, um den Allradantrieb zu testen. Das Abnahmeprotokoll des Kolonialamts fällt positiv aus.

Im Mai 1908 wird das Fahrzeug mit dem Dampfer „Kedive“ nach Swakopmund in Afrika verschifft. Im Juni steht es in Deutsch-Südwest-Afrika dem Staatssekretär des Reichskolonialamts, Bernhard Dernburg (1865 bis 1937), zur Verfügung. Er hat die Aufgabe, das Verhältnis der Kolonien mit dem Mutterland zu koordinieren und zu verbessern. Aufgrund seiner Fahrten bekommt das Allrad-Automobil viele Jahre später den Beinamen „Dernburg-Wagen“. Gleichzeitig dienen die Touren generell der Erprobung des Automobils als Fortbewegungsmittel in der Kolonie, zu diesem Zweck begleiten zumindest zeitweise weitere heckangetriebene Fahrzeuge von Benz und Daimler das Allradfahrzeug, nämlich ein siebensitziger, weitgehend gepanzerter Personenwagen von Benz und drei Lastwagen von Daimler.

Im ständigen Dienst der Landespolizei

Nach dieser Reise steht das Fahrzeug in Deutsch-Südwest-Afrika der Landespolizei als ständiges Fortbewegungsmittel zur Verfügung. Es existiert ein genaues Fahrtenbuch, so werden beispielsweise bis Anfang 1910 rund 10 000 Kilometer zurückgelegt. Den Chauffeur und Mechaniker in Personalunion hat die Daimler-Motoren-Gesellschaft mit dem Allradfahrzeug nach Afrika geschickt – eine damals durchaus übliche Vorgehensweise. Und weil das Auto zur Landespolizei gehört, wird der Chauffeur Paul Ritter kurzerhand zum Polizisten ernannt. Er bleibt nach der Abreise Dernburgs im Land und betreut das Fahrzeug, kehrt auch immer wieder nach Marienfelde zurück, um sich Ersatzteile und Fertigkeiten zum Warten und Reparieren des Autos zu holen.

Bis Anfang 1910 fährt der Dernburg-Wagen rund 10.000 Kilometer

Aus allen Details des Dernburg-Wagens spricht die sichere Konstruktionsfähigkeit Paul Daimlers, der das Fahrzeug exakt auf seinen Einsatzzweck hin ausrichtet. Jede Einzelheit ist durchdacht, damit das Fahrzeug keine Kompromisse eingeht für seine Kernaufgabe, dem Fahren in unwegsamem Gelände.

Dennoch verlaufen die Fahrten keinesfalls so reibungslos, wie sich alle Beteiligten sicherlich erhoffen. Denn das hohe Fahrzeuggewicht, zu einem guten Teil in den besonderen Anforderungen des Kolonialamts an die Fahrzeugeigenschaften begründet, belastet die Luftreifen sehr stark, so dass sie unter der Beanspruchung auch unwegsamer Strecken nur eine vergleichsweise geringe Lebensdauer haben – 36 Reifen und 27 Schläuche sind es während der erwähnten 10 000 Kilometer bis Anfang 1910. Versuche mit Vollgummireifen verlaufen negativ, da dann eine zu große Kraft auf die Felgen einwirkt und sie zerstört.

Der Allradantrieb hingegen bewährt sich insbesondere auf tiefsandigen Strecken, dort kommt das Fahrzeug besser voran als die gleichfalls vorhandenen Lastwagen mit Heckantrieb. Dennoch spricht sich ein Oberstleutnant der Landespolizei nach eingehender Inspektion dafür aus, das Fahrzeug auf reinen Heckantrieb umzurüsten: Der Allradantrieb mit seinen zahlreichen Komponenten ist aufwendig zu warten und zu reparieren. Dieser Umbau wird offenbar auch vorgenommen, aber genaue Angaben liegen nicht vor. Über die Verwendung des Fahrzeugs während des Ersten Weltkriegs sind keine Aufzeichnungen bekannt. Danach und mit dem Ende der deutschen Kolonialzeit verläuft sich die Spur des „Dernburg-Wagens“ – der Verbleib ist unbekannt. Paul Ritter allerdings, der Chauffeur und Mechaniker, kehrt 1919 nach Marienfelde zurück und findet dort bei der Daimler-Motoren-Gesellschaft wieder Arbeit.

Die Rekonstruktion des „Dernburg-Wagens“

Seit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der deutschen Kolonialzeit gilt das Einzelstück als verschollen. Im Jahr 2006 entschließt sich die Daimler AG, den „Dernburg-Wagen“ als detailreiches Modell nachzubauen, um das Jubiläum des Unternehmens „100 Jahre Allrad-Personenwagen“ zu feiern. Das Modell soll so nah am Original von 1907 sein wie nur möglich – was aber eine große Herausforderung ist. Denn technische Zeichnungen existieren nicht, und den unternehmenseigenen Spezialisten stehen auch nur sechs zeitgenössische Fotos zur Verfügung. Außerdem sind gerade mal fünf Maße bekannt: der Achsabstand, die Spurweite, der geringste Bodenabstand, der Reifendurchmesser und die Reifenbreite.

10 Bilder Fotostrecke | Der Dernburg Wagen - der erste Allrad von Mercedes-Benz: Die äußerst durchdachte Konstruktion von Paul Daimler hat Allradantrieb und sogar eine Allradlenkung #01 #02 Die Modellbauer vollbringen eine fast unmögliche Aufgabe: Aus diesem spärlichen Material rekonstruieren sie in rund 5 Monaten den „Dernburg-Wagen“ im Maßstab 1:4. Das etwa 1,25 Meter lange Resultat ist sehr nah am Original. Das Modell erlebt seinen ersten großen Auftritt auf der North American International Auto Show (NAIAS) in Detroit im Januar 2007 und dokumentiert damit, dass 1907 die Daimler-Motoren-Gesellschaft den ersten Personen-Allradwagen für den Alltagsbetrieb konstruiert hat – und damit den Beginn einer insgesamt sehr erfolgreichen Marktgeschichte markiert.

Mercedes-Fans Facts:

1907 Dernburg Wagen

Antrieb: Daimler-Motor, Typ E4 mit paarweise zusammengegossenen Zylindern, 2 seitliche Nockenwellen, 4-Zylinder/Reihe, 2 Ventile pro Zylinder, Ventile seitlich stehend in T-Anordnung, 6.786 ccm, Bohrung x Hub

120 x 150 mm, 35 PS/26 kW bei 800/min, Magnet-elektrische Abreißzündung, Daimler-Kolbenvergaser, Zentrifugal-Regulator; Permanenter Allradantrieb, Kegelradantrieb, Momentenverteilung 50 : 50 (v/h), Aluminium-Konuskupplung, Viergang-Handschaltgetriebe, ein Rückwärtsgang

Fahrwerk: Gerader, gepresster Stahlrahmen

Vorderachse: Starrachse, Blattfedern

Hinterachse: Starrachse, Blattfedern

Bremsanlage: Wassergekühlte Außenbackenbremsen vorn über Fußpedal zu betätigen, Außenbandbremse hinten über Handhebel zu betätigen

Lenkung: Schraubspindel-Allradlenkung

Räder: Geschlossene Nickelstahl-Blechfelgen mit

930 x 125 Reifen

Sonstiges:

Frontkühler mit Ventilator, zusätzlich ein um die Spritzwand angebrachter hufeisenförmiger Kühler, Verbindung der beiden Kühler über zwei seitlich angebrachte Wasserbehälter, auf 28 Liter Volumen vergrößerter Motor-Kühlmantel um die Zylinder, gesamte Kühlwassermenge im Umlauf: 140 Liter, sämtliche kraftübertragenden Teile sind gegen Flugsand geschützt, Motor komplett eingehüllt, Getriebe mit stabilem Gehäuseunterteil versehen.

Radstand: 4.000 mm

Länge x Breite x Höhe: 4.900 x 2.000 x 2.700 mm

Gewicht: 3.600 kg

Höchstgeschwindigkeit: 40 km/h

Steigfähigkeit: 25 %

Kraftstoffverbrauch: rund 25 l/100 km

Neupreis 1907: 34 750 Mark

Stückzahl: 1

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