Rückblick: Das Sicherheitskonzept des Mercedes-Benz SL der Baureihe R129

Meilenstein in der Geschichte der passiven Sicherheit: Der SL ist seinerzeit das sicherste offene Fahrzeug der Welt

Rückblick: Das Sicherheitskonzept des Mercedes-Benz SL der Baureihe R129: Meilenstein in der Geschichte der passiven Sicherheit: Der SL ist seinerzeit das sicherste offene Fahrzeug der Welt
Erstellt am 11. April 2012

Mit dem 1989 präsentierten Mercedes-Benz SL der Baureihe R 129 beginnt eine neue Sicherheitsära für offene Fahrzeuge. Denn bis zu diesem Zeitpunkt hat noch kein Autohersteller das Problem des Überschlags von Cabriolets gelöst: Der Windschutzscheibenrahmen als einziger Aufschlagpunkt knickt bei einem Überschlag meist an den Bordkanten ab; eine weitere stützende Auflage hinter den Insassen gibt es nicht, und sie sind dem Geschehen ungenügend geschützt ausgeliefert.

Die von Mercedes-Benz angestellten Unfalluntersuchungen mit eigenen Cabriolets ergeben, dass bei Unfällen mit schwersten Personenschäden der Überschlag mit einem Anteil von 24 Prozent beteiligt ist. Das ist Auslöser genug, sich ausführlich mit der Suche nach einer besseren Lösung zu beschäftigen.

Eine Ausnahme bildet lediglich die Konstruktion mit einem fest stehenden und verkleideten Überrollbügel, auch in Form eines Targadachs (ital. targa = [Nummern-]Schild; seit 1965 Dachaufbau bei Porsche). Doch das kommt für Mercedes-Benz nicht infrage, da diese Karosseriebauweise die Cabriolet-Seitenlinie beeinträchtigt und zudem von vielen Liebhabern des offenen Fahrens als Einschränkung empfunden wird.

Aufwendigste Sicherheit für ein offenes Fahrzeug

Für das neue Sicherheitskonzept, das schließlich beim SL der Baureihe R 129 verwirklicht wird, sind zwei voneinander abhängige äußerst anspruchsvolle Schlüsselkriterien zu erfüllen: der Dachfalltest und der Überschlag. Der von Mercedes-Benz bei der Fahrzeugentwicklung durchgeführte Dachfalltest erfolgt aus 50 Zentimeter Höhe, der Überrolltest mit anderthalb- bis zweifachem Überschlag aus einer Höhe von 40 Zentimetern über das Abwerfen des Fahrzeugs von einem sich mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 40 km/h bewegenden Schlitten. Erschwerend für die Überschlagstabilität kommt beim R 129 der flachere Neigungswinkel der Windschutzscheibe hinzu, der sich gegenüber dem Vorgänger-SL der Baureihe 107 von 46 auf 57 Grad ändert.

Da die größte Biegebeanspruchung der A-Säule beim Austritt aus der Karosserie auftritt und diese sich dort bei einer starken Belastung biegt, aber nicht abknicken darf, sind umfangreiche Experimente bei Materialauswahl und Konstruktion notwendig. Die Lösung bringt eine A-Säulen-Konstruktion, deren Profil aus hochfesten Blechen durch ein eingestecktes und oben schräg abgeschnittenes Rohr verstärkt wird. Diese maßgeblichen Verbesserungen ersetzen allerdings zu keinem Zeitpunkt eine zusätzliche Lösung durch einen Überrollbügel.

Trotz verstärkter A-Säule benötigte man einen Überollbügel

Unter der Leitung des Ingenieurs Karl-Heinz Baumann wird über mehrere Entwicklungsstufen hinweg ein Überrollbügel-System entwickelt, dass aus mehreren Komponenten besteht. Es umfasst zunächst einen Überrollbügel aus U-förmig gebogenem hochfestem und vergütetem Rohr, eingelegt in verschweißte Halbschalen und ummantelt mit Polyurethan-Schaum. Hinzu kommen Abstütz- und Betätigungselemente zum Abstützen und Aufstellen des Bügels sowie ein multifunktionales Steuergerät, das in Verbindung mit den Hinterachs-Sensoren eine zum Überschlag führende Situation erfasst und die Funktionen von Überrollbügel und Sicherheitsgurte beeinflusst. Dieses aufwendige System ist einzigartig: Es lässt den Überrollbügel bei einem drohenden Überschlag innerhalb von 0,3 Sekunden hervorschnellen, um seine schützende Wirkung zu entfalten.

Die Erforscher der passiven Sicherheit bei Mercedes-Benz legen nicht nur die Vorschriften einzelner Länder als Maßstab für die Crashsicherheit einer Karosserie zugrunde. Darüber hinaus sind eigene Anforderungen zu erfüllen. Dazu gehört beispielsweise der Offsetcrash mit 40 Prozent Überdeckung aus einer Geschwindigkeit von 55 km/h. Das Unternehmen misst Mitte der 1980er-Jahre diesem Crash eine größere Bedeutung zu als dem seinerzeit geläufigen Offsetcrash mit 50 Prozent Überdeckung aus 60 km/h, der selbstverständlich auch bestanden werden muss. Der Grund: Bei einer 40-prozentigen Überdeckung wird die Karosseriestruktur stärker einseitig belastet. Sie muss in stärkerem Maße Bewegungsenergie abbauen und Intrusionen (Eindringungen) vermeiden, da hier die Motor-Getriebe-Einheit nicht zur Reduzierung der Bewegungsenergie mit herangezogen wird.

Der automatische Überrollbügel schnellt bei einem drohenden Überschlag innerhalb von 0,3 Sekunden hervor

Ab dem Modelljahr 1994 ist in den USA der Seitenaufpralltest mit der „Crabbed-Barrier“ vorgeschrieben. Diese Disziplin sieht einen Aufprall mit einem wabenförmigen Kopf eines Rammbocks vor, der mit 54 km/h im Krebsgang auf ein parallel davor stehendes Fahrzeug erfolgt. Damit soll der Aufprall mit den in den USA weit verbreiteten „Light Trucks“ simuliert werden. Die extremen Beanspruchungen der Fahrgastzelle werden bei der Baureihe R 129 von quer versteifenden Maßnahmen in der Boden- und Sitzanlage aufgefangen. So erfinden die Ingenieure den Integralsitz. Von Anfang an erfüllt das 1989 debütierende Fahrzeug diese Forderungen, also bereits fünf Jahre vor Inkrafttreten dieser Vorschrift.

Außer der gesetzlichen Anforderung eines Aufpralltests mit 100 Prozent Überdeckung aus einer Geschwindigkeit von 50 km/h legt Mercedes-Benz noch weitere Kriterien zugrunde: eine Überdeckung von 40 Prozent bei 15 und bei 50 km/h mit einem Aufprall durch Stoßwagen mit und ohne wabenförmigen Stoßkopf sowie ein Heckaufprall mit 50 Prozent Überdeckung bei 50 km/h.

In der Summe aller Maßnahmen kann wohl ohne Übertreibung gesagt werden, dass der Mercedes-Benz SL der Baureihe R 129 zum Zeitpunkt seines Erscheinens der sicherste offene Wagen der Welt ist. Zugleich ist er damit ein Meilenstein in der Geschichte der passiven Sicherheit.

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