Vor 15 Jahren startet Serienentwicklung von PRE-SAFE®

Wie die Revolution des präventiven Insassenschutzsystems begann

Vor 15 Jahren startet Serienentwicklung von PRE-SAFE®: Wie die Revolution des präventiven Insassenschutzsystems begann
Erstellt am 27. März 2014

Mit dem präventiven Insassenschutzsystem PRE-SAFE® startete Mercedes-Benz 2002 in eine neue Ära der Fahrzeugsicherheit und beendete die Trennung von Aktiver und Passiver Sicherheit. Denn PRE-SAFE® kann vorsorglich Schutzmaßnahmen für die Auto-Passagiere aktivieren. Ziel ist es, Insassen und Auto auf einen drohenden Zusammenstoß vorzubereiten, sodass Gurte und Airbags beim Aufprall ihre volle Schutzwirkung entfalten können.

PRE-SAFE® ist aktuell in 16 Baureihen quer durch das Modellprogramm von Mercedes-Benz Cars von der A- bis zur S-Klasse verfügbar und kann aktuell in bis zu 13 unfallträchtigen Szenarien vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Mehr als die Hälfte aller Mercedes-Benz Pkw-Baureihen besitzen PRE-SAFE® serienmäßig. Die Mercedes-Benz Ingenieure Prof. Rodolfo Schöneburg (54) und Karl-Heinz Baumann (62) erinnern sich im Interview an den Beginn der Serienentwicklung im Jahr 1999.

Herr Baumann, gab es das Biologiebuch Ihrer Tochter mit dem Bild einer Katze, die auf die Füße fällt, wirklich? Oder ist das nur ein häufig kolportiertes Bonmot, dass Sie sich davon inspirieren ließen und so die Idee eines Autos mit Reflexen – als Grundgedanke von PRE-SAFE® – entstand?



Baumann (lacht): Naja, genau genommen war es ein Micky-Mouse-Heft. Ich habe meine damals achtjährige Tochter gefragt, wie sie illustrieren würde, dass jedes Lebewesen reflexartig auf plötzlich auftretende Gefahrensituationen reagiert. Da hat sie mir ihren Comicband mit einer gezeichneten Katze gezeigt. Das Heft gibt es übrigens noch, und im Rahmen der Mercedes-Benz Wanderausstellung „Prepare to be safe“ wurde es sogar mehrfach ausgestellt.

Wie kamen Sie auf die Idee, auch die Zeit vor dem Crash für Sicherheits­maßnahmen zu nutzen, was ja der radikal neue Gedanke von PRE-SAFE® ist?



Schöneburg: Den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung von PRE-SAFE® lieferte wie bei so vielen Mercedes-Benz Sicherheitsinnovationen das reale Unfallgeschehen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich ein Unfall in vielen Fällen schon vor dem eigentlichen Aufprall abzeichnet. Früher wurde also wertvolle Zeit verschenkt, wenn die Schutzsysteme erst beim Aufprall aktiviert wurden. Diese Zeit, vom ersten Erkennen einer unfallträchtigen Fahrsituation bis zum möglichen Crash, nutzt PRE-SAFE®, um die Insassen präventiv zu schützen.

Über welche zeitlichen Dimensionen reden wir hier eigentlich?



Schöneburg: Ein Unfall passiert innerhalb von ungefähr 100 Millisekunden. Wenn Sie z. B. mit 50 km/h an die Wand fahren, vergeht etwa 0,1 Sekunde, bis das Auto steht, d. h. in 100 Millisekunden muss alles aktiviert und der Insasse per Gurt und Airbag zurückgehalten werden. Aber wenn wir mit PRE-SAFE® die Vorunfallphase nutzen, haben wir nicht nur Millisekunden Zeit, sondern Sekunden. Deswegen können wir in diesen Fällen auch die Sitzlehnen aufrichten und die Gurte straffen.

Welches waren die größten Hürden bei der Entwicklung von PRE-SAFE® bis zur Serienreife?



Schöneburg: Ich meine, die wesentliche Leistung war zunächst einmal der Gedanke an sich. Lange Jahre gab es eine Art Blockade zum Thema Pre-Crash. Man war der Meinung, man müsse erst hundertprozentig erkennen, dass es zu einem Unfall kommen wird, um dann z. B. die Airbags zu aktivieren. Der Gedankensprung war, dass wir sagten: Das kann man wahrscheinlich nie erreichen, dass man einen Unfall zu 100 Prozent vorher erkennt. Wir müssen mit einer Unfallwahrscheinlichkeit leben. Und deshalb müssen wir uns mit reversiblen Systemen beschäftigen, weil es immer sein kann, dass der Unfall noch vermieden wird. Ich glaube, das ist die wesentliche Innovation gewesen!

Wie wurden die PRE-SAFE® Systeme erprobt?



Schöneburg: Wir haben PRE-SAFE® natürlich umfangreich auf Testgeländen, im Straßenverkehr und im Simulator erprobt. Um die Situationserkennung zu optimieren, wurde in der Entwicklungsphase der zweiten Generation, als wir PRE-SAFE® mit den Informationen von DISTRONIC PLUS kombinierten, beispielsweise die neue Technik samt zusätzlicher Messausrüstung in Taxis eingebaut. Über 400.000 Kilometer legten diese Fahrzeuge 2007 im Stuttgarter Stadtverkehr zurück. Dichter Stop-and-Go-Verkehr, schnelle, häufige Spurwechsel und wechselnder Fahrbahnbelag mit Schlaglöchern und Gullideckeln – das waren für uns ideale Bedingungen, um den Algorithmus abzusichern. Denn eine nahe Bordsteinkante oder Radarreflektionen von Straßenbahnschienen sollen natürlich nicht zu einer Aktivierung der Insassenschutzsysteme führen.

Lässt sich beziffern, wie vielen Menschen PRE-SAFE® seit seiner Einführung vor nunmehr 12 Jahren das Leben gerettet hat?



Baumann: Wie viele Leben PRE-SAFE® inzwischen gerettet und wie viele Verletzungen es verhindert oder gemildert hat, lässt sich statistisch nicht ermitteln. Aber unsere Unfallforschung hat analysiert, dass über zwei Dritteln aller Verkehrsunfälle kritische Fahrsituationen vorausgehen, die bereits Rückschlüsse auf eine Gefahr oder eine drohende Kollision erlauben. Zudem konnten wir im Rahmen der Entwicklung durch beispielhafte Crashtests ermitteln, dass durch PRE-SAFE® das Risiko einer schweren Verletzung bei Frontalaufprallkonstellationen um bis zu ein Viertel sinken kann.

Wie bei ABS oder ESP® sind inzwischen ja auch andere Autohersteller dem Sicherheitspionier Mercedes-Benz gefolgt und haben ein präventives Sicherheitssystem ähnlich PRE-SAFE® entwickelt. Stört Sie das?



Schöneburg: Im Gegenteil, denn schließlich profitieren letztendlich alle Verkehrsteilnehmer davon. Viele Sicherheitsinnovationen, mit denen Mercedes-Benz zuerst im Markt war, sind heute auch bei anderen Automobilherstellern verfügbar. Und, was mir auch ganz wichtig ist: PRE‑SAFE® ist bei Mercedes-Benz nicht den Topmodellen vorbehalten, sondern ist von der A- bis zur S-Klasse aktuell in insgesamt 16 Baureihen quer durch das Modellprogramm erhältlich.



Baumann: Mercedes-Benz hat es sich zum Ziel gesetzt, die Trendsetter-Funktion auf dem Gebiet der Sicherheit beizubehalten. Wenn die anderen Hersteller diesen Weg dann ebenfalls einschlagen, dann denke ich, ist das eine Bestätigung der zielführenden Arbeit.

Das PRE-SAFE® System in der neuen S-Klasse deckt zirka ein Dutzend Unfallszenarien ab. Sind überhaupt noch weitere PRE-SAFE® Innovationen denkbar?



Schöneburg: Intern und extern ist durch die Fülle der Sicherheitsfeatures, die wir heute in unseren Serienfahrzeugen haben, vielleicht der Eindruck entstanden, hier sei nicht mehr viel Neues zu erwarten. Diese Wahrnehmung ist falsch – wir haben noch eine große Fülle von Ideen, wie die Fahrzeugsicherheit weiter verbessert werden kann.

Was wird konkret die nächste PRE-SAFE® Innovation sein?



Schöneburg: Wir beschäftigen uns derzeit intensiv damit, die Oberkörperbelastung der Insassen beim Seitencrash zu reduzieren.

Die Historie von PRE-SAFE®:

2002:

Einführung in der S-Klasse (W 220); Funktionen: vorsorgliche Straffung der Sicherheitsgurte von Fahrer und Beifahrer, bessere Position des elektrischen Beifahrersitzes, automatische Schließung des Schiebedachs (Sonderausstattung)



2005:

Kombination mit dem Brems-Assistenten PLUS; erweiterte Funktionen: automatisches Schließen der Seitenscheiben, Aufblasen der Stützpolster der Multikontur-Vordersitze (Sonderausstattung)



2006:

PRE-SAFE® Aktivierung durch weitere Assistenzsysteme mit Radartechnologie



2011:

Debüt in der Kompaktklasse (B-Klasse W 246)



2013:

Einführung neuer Funktionen in der S-Klasse: PRE-SAFE® PLUS und PRE-SAFE® Impuls, Verknüpfung mit der Stereo-Kamera PRE-SAFE® PLUS: erkennt eine drohende Heckkollision, warnt den nachfolgenden Verkehr über schnell blinkende hintere Warnblinkleuchten, bremst bei Stillstand das stehende Fahrzeug zur Reduzierung des Vorwärtsrucks fest und reduziert so Insassenbelastung sowie das Risiko von Sekundärkollisionen. Unmittelbar vor dem Aufprall wird PRE-SAFE® aktiviert.PRE-SAFE® Impuls: erweitert die Schutzfunktion des Front-Sicherheitsgurts. In einer frühen Crashphase noch vor dem Anstieg der aufprallbedingten Verzögerung bewegt der Sicherheitsgurt die vorderen Insassen entgegen der Aufprallrichtung und zieht sie tiefer in den Sitz. Zum Zeitpunkt der höchsten Belastungsphase beim Unfall wird der eingezogene Weg dann unter kontrolliertem Energieabbau über eine zusätzliche Kraftbegrenzung im Gurtschloss wieder zur Verfügung gestellt. Vorbeschleunigung und Kraftbegrenzung ermöglichen eine zeitweise Entkopplung des Insassen vom Crash.

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