Neuer Aeroakustik-Windkanal bei Mercedes-Benz Sindelfingen

Aerodynamik als Basis für Effizienz und Komfort

Neuer Aeroakustik-Windkanal bei Mercedes-Benz Sindelfingen: Aerodynamik als Basis für Effizienz und Komfort
Erstellt am 14. Februar 2013

Je windschnittiger ein Automobil ist, desto geringer ist sein Verbrauch. Doch auch Sicherheit, Komfort und Umwelt profitieren von der Beseitigung störender Luftwirbel. Mercedes-Benz ist in sämtlichen aerodynamischen Disziplinen wie Luftwiderstand, beim Geräuschniveau, beim Offenfahr-Komfort und bei der Schmutzfreihaltung seit Jahren in fast allen Fahrzeugklassen führend. Somit muss emotionales Design und hohe aerodynamische Effizienz kein Widerspruch sein. Mit dem neuen Aeroakustik*-Windkanal im Entwicklungszentrum Sindelfingen setzt sich das Unternehmen jetzt auch an die Spitze des aerodynamischen Versuchs.



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1984 setzte die E-Klasse der Baureihe W124 mit einem cw–Wert* von 0,29 einen aerodynamischen Paukenschlag. Sie wurde zum Maßstab, an dem sich bis heute alle Limousinen messen lassen müssen – und den längst nicht alle bestehen. Glatte Flächen, ein eingezogenes Heck und eine klare Abrisskante am Kofferraumdeckel waren konstruktive Elemente, die bis heute eine gute aerodynamische Grundform beschreiben. Seither wird beim cw–Wert an der zweiten Stelle hinter dem Komma gefeilt. Eine Verbesserung des cw-Wertes um 0,01 bedeutet im Fahrzyklus (NEFZ) immerhin ein Gramm CO2/km weniger Verbrauch, im gemittelten Realverbrauch sind es schon zwei Gramm und bei 150 km/h bereits fünf Gramm CO2/pro Kilometer.

Im Fokus steht also der dimensionslose Luftwiderstandsbeiwert cw: Er ist das Maß für die aerodynamische Formgüte eines Körpers und damit auch eines Automobils. Mit einem cw-Wert von 0,23 erreicht hier der Mercedes-Benz CLA eine neue Bestmarke – sowohl innerhalb der Mercedes Modellpalette als auch unter allen Serienfahrzeugen. Der CLA 180 BlueEFFICIENCY Edition unterbietet diesen Bestwert sogar noch einmal. Hier lautet der cw-Wert 0,22. Doch entscheidend für den Luftwiderstand ist keineswegs der cw–Wert allein. Denn zweite bestimmende Größe ist die Stirnfläche des Fahrzeugs, seine Querschnittsfläche in Strömungsrichtung. Früher wurde die Stirnfläche ermittelt, indem der Schatten des Körpers mit einer sehr weit entfernten Lampe auf einen durchsichtigen Schirm projiziert wurde. Dann malte man den Umriss ab und errechnete aus den einzelnen Segmenten die Gesamtfläche. Heute wird die Stirnfläche mit Laserlichtschranken abgetastet.

Weil Autos unter anderem aus Gründen des Komforts aber immer breiter und höher werden, sind den Aerodynamikern hier die Hände weitestgehend gebunden. Das Luftwiderstandmaß beschreibt, wie effizient ein Fahrzeug durch den Wind gleitet, es wird errechnet als Produkt aus Luftwiderstands­beiwert und Stirnfläche eines Fahrzeugs. Und da der Beiwert dimensionslos ist, wird das Luftwiderstandsmaß angegeben in m². Im Falle des Aerodynamik-Weltmeisters CLA bedeutet dies: Die Luftwiderstandsfläche cw x A, liegt mit 0,51 m2 ebenfalls an der Spitze und deutlich unter vielen Kleinwagen. Als CLA 180 BlueEFFICIENCY Edition wird dieser Bestwert sogar noch einmal unterboten, beim Luftwiderstand knackt das viertürige Coupé eine magische Grenze: Er beträgt nur 0,49 m².

Nur nicht in die Luft gehen: aerodynamischen Auftrieb vermindern

Wie alle Rennsportfans wissen, hat die Aerodynamik auch einen wesentlichen Einfluss auf das Fahrverhalten, gerade bei höheren Geschwindigkeiten. Denn die den Fahrzeugkörper überströmende Luft hat die unangenehme Eigenschaft, Auftrieb erzeugen zu können. Was Flugzeuge erst in die Luft hebt, ist bei Automobilen verständlicherweise unerwünscht. Aerodynamische Optimierung bedeutet daher auch, nicht nur den Luftwiderstand zu senken, sondern auch möglichst geringen Auftrieb zu erzeugen. Entscheidend ist dabei nicht nur der absolute Wert an Vorder- und Hinterachse, sondern eine möglichst harmonische Abstimmung der Werte für vorne und hinten. Nur so ändert sich das Fahrverhalten bei höheren Geschwindigkeiten nicht.

Die Ruhe selbst: akustische Optimierung von Anfang an

Auch Windgeräusche sind eine Disziplin der Aerodynamik. Grundvoraussetzung für ein niedriges Windgeräuschniveau im Innenraum sind winddicht abschließende Tür- und Fensterdichtungen. Dies gilt besonders für Fahrzeuge mit rahmenlosen Seitenscheiben wie beim CLA, aber auch bei den anderen Coupés von Mercedes-Benz.

Doch Dichtungen sind erst der zweite Schritt. Zunehmend rückt in den Vordergrund der Entwicklung, Quellen für die Entstehung von Windgeräuschen, etwa an den Außenspiegeln oder beim Übergang von Motorhaube zur Frontscheibe und zum Dach, zu identifizieren und zu eliminieren. Mit den Messwerkzeugen Kunstköpfe und Richtmikrofone lassen sich kleinste Schwachstellen lokalisieren, die dann durch bestmögliche technische Lösungen eliminiert werden. Bereits in der frühen Entwicklungsphase des E-Klasse Coupés beispielsweise wurde mit einem drei Meter großen akustischen Hohlspiegel die Außenform der A-Säule und die der Außenspiegel im Windkanal optimiert.

Voller Durchblick auch im Regen: Aerodynamik hält Sichtfeld frei

Ein weiteres Arbeitsfeld bei den Windkanal-Experten ist der Kampf um freie Sicht. Es geht darum, die Windführung so zu gestalten, dass beispielsweise Seitenscheiben und Außenspiegel auch bei Schmuddelwetter freie Sicht garantieren. Bei den entsprechenden Versuchen werden mit fluoreszierenden Wassertropfen unter UV-Licht die Wasserablagerungen sichtbar gemacht. Dadurch lässt sich nachzuvollziehen, welchen Weg der Schmutz bei verschiedenen Geschwindigkeiten nimmt. Um die hochempfindliche Messtechnik und die Laufbänder des neuen Aeroakustik-Kanals in Sindelfingen nicht mit Verschmutzungsversuchen zu belasten, werden diese auch künftig im so genannten Großen Windkanal im Werk Stuttgart-Untertürkheim durchgeführt.

Sonderfall: Offenfahren mit Komfort

Kein Hersteller hat eine so lange und ungebrochene Tradition bei Fahrzeugen ohne festes Dach wie Mercedes-Benz. Cabriolets und Roadster gehören seit jeher zum Modellprogramm des Unternehmens, und sie bieten Fahrvergnügen in seiner emotionalsten Form. Kunden wollen aber heute wählen können, ob sie sich den Wind heftig um die Nase wehen lassen oder die frische Luft weitgehend zugfrei genießen. Für diese besondere Form der kultivierten Sportlichkeit haben Mercedes-Benz Kunden heute die Wahl unter vier Produktlinien: SLK, SL, SLS AMG und E-Klasse Cabriolet.

Mit der Einführung des Windschotts als Weltneuheit beim SL des Jahres 1989 bot Mercedes-Benz erstmals ein aerodynamisches Mittel gegen den durchs Cockpit tosenden Wind. Nächster Schritt war 2004 das Debüt des „Luftschals“ AIRSCARF beim SLK. Die patentierte Kopfraumheizung lässt temperierte Luft aus den Kopfstützen an den Nacken von Fahrer und Beifahrer strömen.

Das umfassendste Paket an aerodynamischem Komfort bietet seit 2010 das E-Klasse Cabriolet. Es ist mit dem automatischen Windschott AIRCAP erhältlich. Dieses kann auf Knopfdruck ausgefahren werden und verringert dann deutlich die Turbulenzen im Innenraum des offenen Viersitzers. AIRCAP besteht aus zwei Komponenten: einer um sechs Zentimeter ausfahrbaren Windlamelle mit Netz im Dachrahmen und einem ebenso ausfahrbaren Windschott zwischen den Rücksitzen.

Der neue Aeroakustik-Windkanal

Mit dem über 70 Jahre alten Windkanal in Stuttgart-Untertürkheim verfügte Mercedes-Benz als erster Automobilhersteller über einen Windkanal. Mit dem neuen Aeroakustik-Windkanal im Entwicklungs­zentrum Sindelfingen setzt sich das Unternehmen wieder an die Spitze des aerodynamischen Versuchs.

So sieht Vertrauen in die Zukunft aus: 2008, mitten in der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, fiel der Startschuss für den Bau des neuen Aeroakustik-Windkanals von Mercedes-Benz. Im Kampf gegen Luftwiderstand und Windgeräusche verfügen die Entwickler von Mercedes-Benz damit ab Mitte 2013 erstmals direkt im Pkw-Entwicklungszentrum Sindelfingen über eine entsprechende Anlage. Neben dem vor zwei Jahren in Betrieb genommenen Klima-Kanal und dem neuen Fahrsimulator-Zentrum komplettiert er die neuen Prüfeinrichtungen im Mercedes-Benz Technology Center und stärkt so die Entwicklungskompetenz von Mercedes-Benz in Deutschland.

Das Gebläse: 265 km/h Windgeschwindigkeit, 5 MW Leistung

Der neue Windkanal folgt der Göttinger Bauart, das heißt, die Luft wird nach der Messstrecke wieder zum Gebläse geleitet und erneut beschleunigt, was viel Energie spart. Das Gebläse hat einen Durchmesser von neun Metern und besitzt 18 Laufschaufeln, die die Luft in Bewegung setzen. Das maximale Drehmoment des elektrischen Antriebsmotors beträgt mit 202.150 Nm etwa das Tausendfache eines gut motorisierten Fahrzeugs. Bei einer Windgeschwindigkeit von 250 km/h beträgt die Leistungsaufnahme fünf Megawatt. Dann dreht sich das Gebläse mit 238 Umdrehungen pro Minute, der Volumenstrom erreicht dann 2.000 m³ oder etwa drei Einfamilienhäuser pro Sekunde. Die maximale Windgeschwindigkeit beträgt 265 km/h.

Im Windkanal wird eine Lufttemperatur von 23 bis 24°C eingehalten. Um auch bei winterlichen Außentemperaturen exakt messen zu können, ist die Betonröhre des Kanals von einem Gebäude umgeben und somit isoliert. Im Betrieb heizt der Antriebsmotor des Gebläses die im Windkanal zirkulierende Luft zunehmend auf. Bei warmen Außentemperaturen wird sie daher durch den hinter dem Gebläse angebrachten Wärmetauscher wieder gekühlt.

Bevor die vom Gebläse beschleunigte Luft über eine Düsenfläche von 28 m² in die Messstrecke gelangt, muss sie gerichtet und geglättet werden, um störende Turbulenzen und Wirbel zu eliminieren. Dafür sorgen Gleichrichter und Siebe.

Für die Nutzung als Akustik-Kanal, in dem die Windgeräusche innen und außen am Versuchsfahrzeug gemessen werden, wurden umfangreiche Geräuschdämm-Maßnahmen integriert. Noch bei 140 km/h strömt die Luft daher flüsterleise durch die Messstrecke.

Messstrecke: fünf Laufbänder bis 265 km/h

Kernstück der 19 Meter langen Messstrecke des Windkanals ist das etwa 90 Tonnen schwere Laufband-Waage-System mit Drehscheibe. Der neue Windkanal besitzt ein Fünf-Band-System zur Simulation der Straße: Unter jedem Rad läuft ein kleines Laufband und zwischen den Rädern ein neun Meter langes und über ein Meter breites Mittenlaufband. Alle fünf Bänder laufen synchron mit dem Wind und stellen damit bis 265 km/h exakt die gleichen Bedingungen wie auf der Straße dar. Die 24 Tonnen schwere Waage, auf der die Fahrzeuge befestigt werden, ist äußerst sensibel und misst auf wenige Gramm genau. Selbst die Zuführungen der Kabel müssen so verlegt werden, dass sie keine störenden Kräfte in das System bringen. Die mit Hilfe der aerodynamischen Waage gemessenen Werte dienen als Grundlage zur Bestimmung der Beiwerte für Luftwiderstandskraft, Seitenkraft und Auftriebskraft pro Achse sowie von Nick-, Roll- und Giermoment.

Das Laufband-Waage-System ist in eine Drehscheibe mit zwölf Meter Durchmesser integriert. So können die zu messenden Fahrzeuge auch unter einem Winkel angeströmt werden, um Seitenwind zu simulieren. Außerdem erleichtert dies den Austausch der Testfahrzeuge in der Messstrecke. Die Versuchsfahrzeuge werden in Werkstätten im Windkanalgebäude unmittelbar neben der Messstrecke vorbereitet. Insgesamt wurde sehr darauf geachtet, die Versuchsfahrzeuge möglichst schnell austauschen zu können, um eine effektive Nutzung des Windkanals zu ermöglichen.

Traversieranlage: exakte Messungen auch bei 265 km/h

Die Traversieranlage versetzt die Ingenieure in die Lage, verschiedene aerodynamische Sonden oder Mikrophone mit sehr hoher Genauigkeit um das Mess­objekt zu platzieren, um so Druck-, Akustik- und Geschwindigkeitsmessungen exakt durchführen zu können. Die Anlage im neuen Sindelfinger Windkanal verfügt über sieben Achsen (drei Translations- [Parallelverschiebungs-] und vier Rotationsachsen) und kann so ein Messvolumen von 19 x 14 x 5 Meter abdecken. Das Gewicht dieser Anlage beträgt 26 Tonnen, denn auch bei maximaler Windgeschwindigkeit müssen die Messsonden exakt und ohne Schwingungen an ihrer Position gehalten werden.

37 Bilder Fotostrecke | Neuer Aeroakustik-Windkanal bei Mercedes-Benz Sindelfingen: Aerodynamik als Basis für Effizienz und Komfort #01 #02 Neben fortschrittlichen Simulationsprogrammen am Computer verfügt Mercedes-Benz jetzt über alle Einrichtungen, um die führende Position in der aero­dynamischen Effizienz und dem aeroakustischen Komfort seiner Fahrzeuge weiter auszubauen. Dr. Teddy Woll, Leiter der Abteilung Aerodynamik/Wind­kanäle der Daimler AG, erläutert: „Computer und Windkanal sind hervorra­gende Werkzeuge, die sich in idealer Weise ergänzen: Mit der numerischen Strömungsberechnung können wir uns sehr komplexe Strömungsphänomene anschauen und jede kleine Turbulenz bis zu ihrer Entstehung zurückverfolgen. Und im Windkanal können wir viele Varianten schnell durchspielen – da kommen dann in einem Windkanaltag oft große Verbesserungen an und ins Auto.“

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